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JUST ARCHITECTURE – GENT GEWAGT

2. Oktober 2023

Exkursion nach Gent mit „Neuberufenen“

Ausgerechnet Flandern, ausgerechnet Gent. Die Vorfreude ist trotz der frühen Stunde am Samstagmorgen groß, als am 9. September eine kleine Busladung von BDA Neuzugängen aus ganz NRW in Köln aufbricht. In Antwerpen war man schon, Gent ist dagegen noch weniger populär. Einzelne Projekte sind bekannt, auch einzelne Protagonisten und die Frage stellt sich, ob und wie es uns gelingen wird, die Figuren und Teilchen zu einem großen Bild zusammenzufügen.

Alles offen zwischen innen und außen, von unten nach oben | CARITAS Psychiatrie, Melle (architecten an de vylder inge vinck, Gent)

Unsere erste Station ist der kleine Ort Melle kurz vor Gent. Dort treffen wir unseren Guide Christof Grafe, einen der Herausgeber der „UMBAUKULTUR – Für eine Architektur des Veränderns“, der zudem von 2011 bis 2017 Direktor des Flanders Architecture Institute in Antwerpen gewesen ist.
Im Park der CARITAS Psychiatrie stoßen wir auf Inge Vinck von AJDVIV (architecten an de vylder inge vinck, Gent), um uns mit ihr Sint-Jozef anzuschauen. Dieses prächtige Haus mit der weißen Loggia war seiner Funktion beraubt, sollte weichen für einen Platz der Begegnung. Inge Vinck erläutert, wie sie sich dem Bestehenden angenähert, seinen Charme, seine räumlichen Qualitäten gespürt haben und den Abriss verweigerten. Was sie getan haben, um den Bau nutzbar zu machen, ihn zu sichern ohne das weitere Altern, ja auch den Verfall auszuschließen, ist erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Dabei ist alles offen zwischen innen und außen, von unten nach oben. Ein Baum wurde gepflanzt, er wächst den freiliegenden Sparren entgegen, ei-ne Straßenlaterne ist eingezogen. Wolken aus Beton schützen freiliegendes Mauerwerk. Wir stehen mitten in einer romantischen Traumwelt. Was man hier tut? Vielleicht sitzt man nur auf dem kleinen Platz, wo am Nachmittag die Sonne für ein paar Minuten hineinfällt. Vielleicht geht man ganz runter ins „Auditorium“, von unten wirkt alles noch fragiler, noch unwahrscheinlicher. 2016 ist das Jahr der Fertigstellung, doch das trifft es nicht. Hier ist nichts fertig, man muss das Haus im Blick behalten. Dass es irgendwann verschwindet, ist für Inge Vinck möglich.

Flüchtiges Stadttheater | STADSHAL (Robbrecht en Daem Architecten & Marie-José van Hee Architecten)

Wir fahren in die Stadt, Gent ist quirlig, kleinteilig, unser Bus ist zu groß. Weiter geht es zu Fuß. Erst Nudeln für alle, dann das historische Zentrum mit seinen drei Türmen. Christof ist flott unterwegs, schafft es, die gesamte Baugeschichte in ein paar Minuten zu packen, dann stoppen wir im Schatten der STADSHAL (Robbrecht en Daem Architecten & Marie-José van Hee Architecten, Gent 2012). Die könnte hier schon immer so ge-standen haben, doch ihr Weg war lang, 16 Jahre wurde der öffentliche Raum verhandelt und aufgeräumt. Wir stehen unter dem weiten hölzernen Doppeldach, der Raum bleibt mehr Außen als Innen und immer sitzt jemand am Klavier unter dem bunten Strudel. Es sind nur ein paar Minuten, vier Leute, vier Stücke. Warum sind hier eigentlich alle kostümiert? Oder sind sie gar nicht kostümiert, sondern nur sie selbst? Dieser Bau kann jeden Tag, jede Minute neu erfunden werden, grade ist er Bühne für alle. Für uns, die wir kurz schauen und hören, ein flüchtiges Stadttheater.

Nah am Originalzustand | BOEKENTOREN der Uni Gent (Henry van de Velde, 1942)

Weitergehen, wir sind zu langsam, springen schnell in die Straßenbahn bis zur übernächsten Station, noch kurz den Hügel rauf, dann stehen wir zu Füßen des vierten Genter Turms. Der BOEKENTOREN der Uni Gent (Henry van de Velde, 1942) war seiner Zeit supermodern. In Eisenbeton mit Gleitschalung errichtet, fasst er die gewaltige Sammlung der Bibliothek. Wir sehen keine Bücher, genießen die konzentrierte Stille der leeren Lesesäle, die feinen Details in Holz, Stein und Beton. Was man kaum sieht, ist die umfassende Modernisierung, mit der Robbrecht en Daem Architecten mit einem interdisziplinären Team den Komplex in einer 9 Jahre dauernden Maßnahme wieder sehr nah an den Originalzustand gebracht haben, moderne Haustechnik und Dämmung bleiben unter den sanierten Oberflächen im Verborgenen.

Fliegender Schulhof | MELOPEE SCHOOL (Xaveer De Geyter Architects, Brüssel)

Wir steigen wieder in den Bus, fahren an den nördlichen Rand der Stadt, wo an den Ouden Dokken nach einem Masterplan von OMA ein neues Quartier entsteht. Von einer der beiden neuen Brücken sehen wir, wie Neubauten, Industriehallen, Kräne und Kähne zusammenwachsen. Direkt am Kai des Ostufers steht eine mit Kletterpflanzen bewachsene offene Stahlkonstruktion, fünf Geschosse hoch, unser nächstes Ziel. Die MELOPEE SCHOOL (XDGA Xaveer De Geyter Architects, Brüssel) ist eines dieser Projekte, die man kaum glauben kann. Die wasserabgewandte Hälfte des Baukörpers ist konventionell geschlossen, darin eine Musikschule, eine Kita, Ganztagsbetreuung, eine Mensa und Sporthallen, die nicht nur den Kindern der Einrich-tungen, sondern auch der Nachbarschaft offenstehen. Das allein ist schon ein tolles Angebot, aber wirklich sprachlos macht uns der offene, über mehrere Ebenen ausgelegte Spiel- und Sportbereich. Hier hängen schiefe und grade Ebenen, bewachsen, mit Tartan überzogen oder als Sitzplatz gestaltet, ganz oben ein Fußballplatz. Alles ist sicher und mit Netzen umhüllt, damit niemand abstürzt. Aber wie kommt man bloß auf eine so großartige Idee? Woher nimmt man den Mut mit einem so wilden Konzept zu Bauherren und Ämtern zu gehen? Weil sich eben doch jemand findet, der es wagt etwas zu wagen. Wir fanden uns ja schon mutig, als wir einfach mal in die fünfte Etage hochgelaufen sind. Alle Türen waren offen und wir waren willkommen, was für ein schöner Moment.

Menschen, die mehr wollen als nur Arbeit | VDK&C4 FABRIK (Buero Juliane Greb)

Noch eine kleine Busfahrt, es geht weiter nach Norden und weiter raus. Kurz ein Blick auf die lange Reihe der winzigen Häuser direkt an den Bahngleisen. Belgien ist ein Land der Hausbesitzer hören wir von Christof und ganz offensichtlich auch ein Land der Bastler und Frickler. Baustopp ist erst an der Grundstücksgrenze. Auf der anderen Seite liegt ein Industriegebiet, darin viel Gewöhnliches. Die VDK&C4 FABRIK (Buero Juliane Greb, 2022) sticht dezent heraus. Glatter Sichtbeton, verschiedene Höhen, ein wenig Pink, ein wenig Zitronengelb und schwarzweiße Streifen. Es empfängt uns Juliane Greb, grade aus Venedig angekommen. Sie führt uns durch den dreieckigen Eingang in den dreieckigen Hof, sie zeigt uns die Kaffeerösterei und Schreinerei, die hier unter einem Dach zusammengekommen sind, weil sie befreundet sind. Was für eine Mischung ist das? Der Kaffeebrand und das Holz, der Pragmatismus, der Funktionalität fordert und die Menschen, die mehr wollen als nur Arbeit. Hier kann man sein, etwas Gitarre spielen, während der Kaffee röstet oder auf der Dachterrasse zwischen bunten Blumen sitzen und den Sonnenuntergang genießen. Hat eigent-lich noch jemand gefragt, warum es da oben kein Geländer gab? Wahrscheinlich nicht. Denn nach dieser intensiven Tour wissen wir, dass uns all das „aber wenn“ und „darf man das?“ nicht weiterbringt. Das Bild, zu dem sich die vielen Erinnerungen an Gent zusammenfügen ist bunt, gewagt bunt. Und so bleibt der Wunsch am späten Abend, lasst uns doch alle ein bisschen mehr Belgien wagen!

Uta Winterhager